2015: Eine Million Menschen suchten Zuflucht in Europa. Die meisten flüchteten aus Afghanistan, Syrien und dem Irak. 90.000 Menschen stellten in Österreich einen Asylantrag. Die Flucht hat das Leben vieler Menschen verändert. Aber das Jahr 2015 hat auch Europa verändert.
Bei der Auftaktveranstaltung zu „Remembering 2015“, dem OPEN MIC am 7. März, tauschten wir in der Bäckerei Erinnerungen aus. Geflüchtete, Unterstützer:innen und Menschen, die in Politik und sozialen Einrichtungen tätig waren, teilten mit uns ihre persönlichen Erlebnisse.
In der bis auf den letzten Meter gefüllten Bäckerei wurden mit viel Aufmerksamkeit, Respekt und Anerkennung Erinnerungen an ein Jahr geteilt, das viele der Redner:innen als wegweisend für ihr Leben beschrieben: als Aufbruch in ein neues Leben, ins Erwachsensein, in einen neuen Zugang zur Welt und in eine neue Menschlichkeit, aber auch als Verlust, Trauer, Aufbruch ins Ungewisse und den Beginn eines langen Warteprozesses.
Und so erinnerten wir uns…
…mit einer freiwilligen Helferin an die Behandlung von Hundebissen, die Menschen auf der Flucht erlitten hatten,
…mit einem jungen Mann an seine Flucht, die er als aufregendes Abenteuer wahrnahm, und an die Freude über die neue Freiheit und die neuen Möglichkeiten, die sich ihm in Österreich eröffneten,
…mit einem Familienvater an die anstrengende Reise von Land zu Land, zu Fuß und im LKW, zusammen mit seiner hochschwangeren Frau und daran, wie er nach langer Herbergssuche von "Mama Christine" aufgenommen wurde, und an die glückliche Geburt der ersten Tochter zu Weihnachten 2015,
…mit einem jungen Liedermacher, der in seinem Lied "Rimini" den Widersprüchen zwischen Mitgefühl und Lebensfreude nachspürte und der Frage, ob das Leben schön sein kann, wenn man weiß, wie sehr andere Menschen leiden müssen.
Wir erinnerten uns
- an die Umfunktionierung der Innsbrucker Tennishalle in eine Unterbringung für Geflüchtete und an die Erfahrung, die sie dort machten, von Sicherheit und gleichzeitiger atemraubender Beengung,
- an die durchwachten Nächte der damaligen Soziallandesrätin und ihren täglichen Kampf um Betten, an die persönliche Angriffe, die sie erlebte, und an die Erfahrung, dass dort, wo sich Menschen begegnen, viel Miteinander entsteht;
Eine ehrenamtliche Helferin berichtete von ihren wöchentlichen Besuchen in einem Flüchtlingsheim und ihrem Erstaunen über den perfekt einstudierten Händedruck und das kräftige "s‘Gott", mit dem sie gleich bei der ersten Begegnung von den Bewohnern begrüßt wurde. Sie erzählte auch von den lustigen Missverständnissen, die entstehen, wenn man über Sprach-, Kultur- und Bildungsgrenzen hinweg ins Gespräch kommt.
Eine junge Frau aus dem Irak berichtete von den großen Ängsten und Unsicherheiten, mit denen sie acht schwierige Jahre in einem Flüchtlingsheim verbracht hatte, und von ihrem frühen, viel zu frühen Erwachsenwerden zu einer Zeit, in der eine gleichaltrige Anwesende durch die Mitarbeit an einem Solidaritätsprojekt in ihrer Schule zu der Person wurde, die sie heute ist.
Ein Mitarbeiter einer sozialen Einrichtung berichtet, dass ihm viele Bilder in den Sinn kommen, wenn er versucht, sich an das Jahr 2015 zu erinnern. Zuerst die E-Mail "Deutschland setzt Dublin für Syrien aus", die als Reaktion auf eine als zu bereitwillig empfundene Willkommenskultur veröffentlicht wurde, dann der Anblick tausender Menschen, die am Salzburger Bahnhof ankamen und dann an der Grenze zu Deutschland auf ihre Weiterreise warteten; er erzählt von einer Superheldenfigur, die ein Kind auf der Fahrt zur Unterkunft im Auto vergessen hatte und die heute noch in seinem Büro darauf wartet, abgeholt zu werden. Und er hat auch nicht die unglaubliche Menge an Arbeit vergessen, die sich plötzlich auftürmte, und die scheinbar unerschöpfliche Energie, die trotz aller Schwierigkeiten in die vielen Aufgaben gesteckt wurde.
"Sei ma stolz auf uns alle" ruft ein junger Mann aus dem Irak gegen Ende des Abends in den Saal, und das Bewusstsein, wie viel in den letzten zehn Jahren gemeinsam erreicht wurde, verbindet - ebenso wie das Wissen, dass die Menschen, die vor zehn Jahren die Ankommenden unterstützt haben, immer noch da sind.
Der Mut, Erinnerungen zu teilen, wurde mit sehr aufmerksamem Zuhören und großem Applaus belohnt. Hassan Ibrahim Berzenci und Nicolas Lang rundeten diesen besonderen Abend mit schönen Klängen ab. Der Verein Fluchtpunkt stellte ein Soli-Buffet zur Verfügung, die Bäckerei war ein guter Gastgeber. Menschen machen Geschichte: Wir bedanken uns herzlich bei allen Beteiligten und Besucher:innen für diesen Abend.
Remembering 2015 ist ein tki open Projekt von ZeMIT und wird vom Land Tirol und der Stadt Innsbruck finanziert.
Weitere Unterstützer:innen und Kooperationspartner sind:
Leopold Franzens Universität Innsbruck, Verein für Wissenschaft und Verantwortlichkeit, Verein Fluchtpunkt, Verein Hindiba, Plattform Asyl, Leokino, Literaturhaus am Inn.